398 Xxl §. 4. Weitere Erhebung der Päpste durch den zweiten Kreuzzug.
beide willig dein Aufruf des obersten Lenkers der Christenheit. Wie-
der zogen die deutschen und die französischen Heere durch Griechen-
land nach Klein-Asien hinüber (1147) und hofften große Thaten ge-
gen die Saraeenen zu vollbringen. Aber diesmal ward ihre Hoff-
nung schrecklich zu Schanden. Durch Mangel, durch Krankheit, durch
Verrath, durch eigne Unvorsichtigkeit, vor Allem durch die Waffen
der Saraeenen wurden beide Heere in Klein-Asien vollständig aufge-
rieben. Nur Wenige gelangten bis nach Jerusalem, und ohne irgend
etwas ausgerichtet zu haben, kehrten die Fürsten nach Europa zurück.
Der Papst erklärte, es seien die Sünden des Volks und ihr Unge-
horsam gegen die Kirche, weshalb Gott die Kreuzfahrer also heimge-
sucht und ihren Dienst verworfen habe.
Eigentlich war es aber nicht der Papst, der damals die Christenheit
nach seinem Willen lenkte und dem die allgemeine Huldigung zukam,
sondern ein hinter ihm stehender ganz unscheinbarer Mann, der aber
in Wahrheit Papst, Bischöfe, Fürsten, Völker wie mit unwiderstehlichem
Scepter beherrschte, der mit dem Winke seiner Hand Stürme herauf-
beschwor und wieder beruhigte, der die Geschicke der Staaten in sei-
nen Händen zu haben schien, der wunderbare, hochberühmte Abt Bern-
hard von Clairvaux. Da war Nichts an ihm von Helbenkraft,
von Leibesschönheit, von äußerer Gestalt und Macht, ein schwacher, elen-
der Mönch, von Krankheit geplagt, im hinfälligen Körper, aber wie
Paulus vermochte er Alles durch den, der ihn mächtig machte, Christus;
nicht er lebte, sondern Christus lebte in ihm. In ihn, in seinen Gott
und Heiland hatte er sich mit allem seinem Sinnen und Denken, mit
allem Wollen und Empsinden so ganz hineinversenkt, daß er nur in ihm
und für ihn zu leben schien. Er war ein armer sündiger und
irrender Mensch wie jeder Andere; aber in der Kraft des Glaubens
stellte er sich furchtlos und siegreich Königen und Päpsten gegenüber,
überredete die Völker, bekehrte die Ketzer, überwand die Männer der
Wissenschaft, that Wunder und weissagte. Dann, aus der gefährlichen
Oeffentlichkeit der Welt sich zurückziehend in seine stille Klosterzelle,
kehrte er wieder zu den kaum unterbrochenen härtesten Bußübungen, zu
den brünstigsten Gebeten, zu den tiefsten Meditationen über göttlichedinge
zurück. Bernhard war, wie früher ein Nilus und Romuald, der
Vater aller jener tiefgläubigen, goltinnigen Seelen, welche wir durch
das ganze Mittelalter hindurch und in spärlicher Zahl auch noch bis
in die neuere Zeit hinein sich glaubend und schauend versenken sehen
in die Fülle der göttlichen Liebe; die ohne viel zu fragen, zu forschen,
zu zweifeln in den unmittelbarsten Verkehr des Herzens mit ihrem
Gott und Heiland treten, dessen Nähe sie mit heiliger Scheu und Lust
sogar oft in sinnlicher Weise zu fühlen vermeinen. Man pflegt sie
Mystiker zu nennen. Ihnen gegenüber stehen andere gläubige Got-
tesgelehrte, welche mehr mit dem Verstände als mit dem Gemüth ar-
beiten und die vor Allem darnach trachten, Klarheit, Sicherheit, Gewiß-
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Extrahierte Personennamen: Clairvaux Christus Christus Bernhard Nilus Romuald
Xxii. §. 7. Gottes Bußgericht in Deutschland. 447
Gnade schrieen. Wie es schon 100 Jahre früher in Italien und von
dorther auch in Deutschland Sitte geworden war, so vereinigten sich
auch jetzt wieder große Schaaren zu schweren Bußübungen nach der
Weise der damaligen Zeit. Mit entblößtem Rücken und verhülltem
Haupte gingen sie paarweise einher, und schlugen sich selber mit har-
ten Riemen dergestalt, daß das Blut auf den Boden herabfloß. Tau-
sende zogen so aus einer Stadt in die andere, geführt von Geist-
lichen mit Kreuzen und Rauchfässern. Aus den Straßen und in den
Kirchen lagerte die Menge, sich geißelnd, ihre Sünden bekennend,
Litaneien singend und um Erbarmen schreiend. Und wohl mochten
sie Ursache haben, sich also zu demüthigen, denn die Sünden der da-
maligen Zeit waren entsetzlich und schrieen gen Himmel. Wie konnte
es auch anders sein, da so lange kein Kaiser, kein König, keine allge-
mein anerkannte Obrigkeit dagewesen war, welche Recht und Gerech-
tigkeit nachdrücklich hätte handhaben können. Die Geistlichkeit, welche
der Rohheit und Zuchtlosigkeit unter dem Volke hätte wehren und
auf die Verbesserung der sittlichen Zustände hätte hinwirken sollen,
war selbst unglaublich tief gesunken. Die meisten Priester konnten
kaum lesen, lebten in offenbarer Hurerei, und waren Helden im Zechen.
Die Mönchs- und Nonnenklöster waren so voll Liederlichkeit und ge-
meiner Wollust, daß ehrbare Eltern anstanden, ihre Söhne oder Töch-
ter dahinein zu senden. Die Gottesdienste bestanden aus Nichts als
Messelesen und sonstigem tobten äußerlichen Werk. Vom Wort Got-
tes und Predigt war keine Rede. Nur die Bettelmönche und unter
diesen auch nur die Franciscaner, fuhren auch jetzt noch fort, sich seel-
sorgerisch und predigend umherziehend des armen Volkes anzunehmen.
Aber auch die Franciscaner waren in einer ärgerlichen Spaltung be-
griffen. Der größte Theil suchte sich gleich wie die Dominicaner von
dem Joche der Armuth loszumachen und die strengen Regeln des
Franciscus durchbrechend, sich die Genüsse des Reichthums wieder zugäng-
lich zu machen. Die strengere Partei war sogar von dem Papst in
den Bann gethan und in die gleiche Classe gesetzt mit den Brüdern
des gemeinsamen Lebens, den Begharden und anderen freien Vereinen,
welche nach Möglichkeit ein gottesdienstlich apostolisches Christenleben
wiederherstellen wollten und deshalb von der Geistlichkeit der Ketzerei
bezüchtigt wurden.
Fragen wir nun nach den Erfolgen jener schweren Heimsuchungen
Gottes, die jetzt nach 500 Jahren, wenn auch in abgeschwächter Form
wiederzukehren schienen, so müssen wir sagen, sie haben damals wie
jetzt wenig ausgetragen. Denn auch jene Flagellanten oder Buß-
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Extrahierte Personennamen: Franciscus
Extrahierte Ortsnamen: Deutschland Italien Deutschland Gottes
Xxii. §. 10. Die großen Kirchenversammlungen und die Hussiten. 455
klagte unter der unerhörten maßlosen Geldgier der beiden Päpste, de-
ren jeder (namentlich aber der französische Papst) nur darauf bedacht
schien, durch alle rechtmäßigen oder unrechtmäßigen Mittel Geld her-
beizuschaffen, theils um den eignen Lüsten zu fröhnen, theils um den
Gegner zu bekämpfen. Das schlug dem Faß vollends den Boden aus.
Auch die Franzosen wurden es müde, ihren Papst zu Avignon um
solchen Preis bei sich zu dulden. Sie wollten ihn zwingen, sich mit
dem römischen Papst zu vertragen. Aber von Vertragen kann unter
Päpsten nie die Rede sein. Lieber entfloh Benedict Xiii., der zu
Avignon auf Clemens Vii. gefolgt war, aus Frankreich nach Spa-
nien, und sprach von seinem Schloß von Perpignan, später von dem
einsamen Peniscola aus, den Bannfluch über die ganze Welt. Da
nun auf solche Weise der Sache nicht geholfen war, so kam man wie-
der auf die alte Forderung zurück, die schon früher von den französi-
schen Königen gegenüber dem Papst Bonifacius Viii. erhoben war,
nämlich, daß wie in alter Zeit wieder ein allgemeines Concilium ver-
sammelt werden müßte, und die gelehrten Theologen, namentlich die
Pariser, bewiesen weitläuftig und gründlich, daß nicht der Papst über
dem Concil, sondern das Concil als die Versammlung aller Bischöfe,
Aebte, Doctoren und Professoren der Theologie über dem Papst stünde
und von dem Concil die Heilung der kranken Kirche an Haupt und
Gliedern geschehen müsse.
§. 10. Die großen Kirchenversammlungen und die
Hussiten.
Daß die Papstgewalt ein Nebel, die Lehre von der Untrüglich-
keit und Göttlichkeit der Päpste ein Unsinn, die Erhebung der geist-
lichen Gewalt über die weltliche ein Verderben beider sei, hatte die
katholische Christenheit durch das Schisma hinlänglich erfahren.
Man hätte meinen sollen, sie würde nun zu der Erkenntniß gekommen
sein, daß die Kirche, welche sich so ganz ihres geistlichen Charakters
entkleidete und in so schändliche Sünden und Spaltungen sich ge-
stürzt hatte, innerlich krank und faul sei und einer gründlichen innern
Reinigung bedürfe. Aber bis zu dieser Einsicht war nur eine sehr kleine
Zahl wahrheitsuchender Männer gelangt. Zuerst Wicleffe in Eng-
land, in dem von den Päpsten in der übermüthigsten Weise behandel-
ten und ausgesogenen Lande, wo jetzt König und Volk die Schwä-
chung der Papstmacht benutzten, um sich von einigen der entehrend-
sten Pflichten gegen die Päpste loszumachen, und sich von dem Pre-
diger und Professor Wicleffe beweisen ließen, daß das Papstthum
nicht eine göttliche, sondern eine menschliche Einrichtung >ei, daß die
Kirche gar kein sichtbares Haupt bedürfe und deshalb auch das
Papstthum unter Umständen wieder aufgehoben werden könne. Da-
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Xxi. §. 11. Kreuzzüge Wider die Ketzer.
417
unruhigen Gewissens, insonderheit aus dem demüthigen Forschen in
der heiligen Schrift sich immer lauter und allgemeiner solche Stim-
men erhoben, welche die ganze bestehende Kirche für besteckt, für wi-
derchristlich erklärten und mit Verwerfung aller gewohnten Formen
des Gottesdienstes und der kirchlichen Gemeinschaft sich in kleineren
Kreisen ihre eignen Gottesdienste, auch wobl ihre eignen Lehren zu-
recht machten. Sie thaten das nach dem Maße ihrer Erkenntniß, und
da die unter den verschiedenen Gegnern der herrschenden Kirche sehr
verschieden war, so wichen auch die Forderungen, Lehren und gottes-
dienstlichen Gebräuche der Einzelnen bedeutend von einander ab. Schon
von Alters her hatte es innerhalb der abendländischen Kirche viel
fromme Gemüther, viel erleuchtete Männer gegeben, welche freimüthi-
ges Zeugniß abgaben gegen die Verderbniß der Geistlichkeit, gegen
die Verwerflichkeit einzelner kirchlicher Lehrbeftimmungen, gegen die
falsche Richtung und Verweltlichung des ganzen kirchlichen Systems.
Aber eine weitere Ausbreitung solcher gegenkirchlichen Behauptungen,
die Bildung besonderer Gemeinschaften, die sich geradezu von der kirch-
lichen Praxis lossagten, trat doch eigentlich erst seit dem zwölften Jahr-
hundert hervor. Da war man durch die Kreuzzüge und den ander-
weitigen regen Verkehr mit dem Morgenland bekannter geworden, mit
den aus alter Zeit noch in den griechischen Ländern vorhandenen
Irrlehren; das neue, kühne, hochfliegende Wesen dieser muthigen und
ausdauernden Feinde der bestehenden Kirche erwarb ihnen besonders
in Italien und im südlichen Frankreich und am Rhein entlang eine
unerwartete Theilnahme. Katharer, Reine, nannten sie sich, und
im Allgemeinen können selbst ihre Feinde ihnen das Zeugniß nicht
versagen, daß ihr Wandel reiner und heiliger gewesen, als er durch-
schnittlich innerhalb der Kirche zu finden war. Aber ihre Lehren
waren zum Theil ganz ungeheuerlich und widersinnig. Man fand
Leute unter ihnen, die zwei Götter glaubten, einen guten und einen
bösen, oder die Welt für ungcschaffen und ewig, oder das ganze
Weltall für Gott erklärten, oder die sich selbst dem Sohne Gottes
gleichftellten oder im alleinigen Besitz des heiligen Geistes zu sein
Vorgaben. Daß Päpste und Bischöfe, Priester und Mönche gegen
solche heillose Jrrthümer zu Felde zogen, war ja recht und gut, wenn
sie es nur mit dem Wort der Wahrheit und dem Schwert des Gei-
stes gethan hätten. Aber schlimmer wurde es, als zu Papst Jnno-
.cenz Iii. Zeiten eine neue Secte sich ausbreitete, die Waldenser,
die ganz und allein sich auf das Wort Gottes stützten, und nur das
wollten als recht und wahr gelten lassen, was in der heiligen Schrift
v. Rohden, Leitfaden. 27
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Xxii. §. 10. Die großen Kirchenversammlungen und die Hussiten. 457
Das zweite zu Kostnitz, 1415—18, saß drei Jahre und meinte ein
Großes gethan zu haben, da es den mit Lastern und greulichen Ver-
brechen wie mit einem unflätigen Gewand überkleideten Papst Jo-
hann Xxiii. absetzte und die beiden anderen Päpste zur Abdankung
bewog. Aber wie wenig es selbst in der Wahrheit stünde, bewies
das Concil in jammervollster Weise dadurch, daß es den Zeugen der
Wahrheit, Johann Huß, elendiglich als einen Ketzer verbrannte.
Das dritte Concil zu Basel, 1431—49, saß gar achtzehn Jahre.
Aber obgleich es eine Menge heilsamer kirchlicher Gesetze zur Abstel-
lung der gröbsten Uebelstände gab, fand cs doch kein Heilmittel wi-
der den Hauptschaden. Es gerieth vielmehr in Zerwürfniß mit dem
Papst, in Zerwürfniß mit sich selber und mit einem großen Theil der
Christenheit, und trat, nachdem es in den letzten Jahren eine kläg-
liche Rolle gespielt, mit Schimpf und Schande wieder vom Schau-
platz ab.
Das erste Concilium, zu Pisa, hatten die Cardinäle ausgeschrie-
den und zwar die römischen und französischen Cardinäle in Gemein-
schaft, denn es lag ihnen wirklich daran, die Einheit und dadurch die
Macht und den Einfluß des Papstthums wiederherzustellen. Nachdem
sie nun zu Pisa den Papst Alerander V. gewählt hatten, betrug
der sich sogleich wieder als Herr des Concils, löste es auf und tröstete
die erschrockenen Reformfreunde mit der Aussicht auf ein bald zu beru-
fendes neues Concil, wo die Reformation der Kirche sollte in Bera-
thung gezogen werden. Er wußte nur zu gut, daß die Leute, die in
Pisa versammelt waren, auch keine Heilige seien, und kannte die Ränke
und Schleichwege sehr genau, durch die man bei ihnen Vieles und Alles
durchsetzen konnte. Als dann nach Alepa nder's Tode 1410 der
Cardinal Balthasar Cossa, einer der verrufensten und schändlich-
sten Menschen, Papst geworden war (er nannte sich Johann Xxiii.),
ward er zwar durch das Drängen des Kaisers Siegmund, durch
die lästigen Anforderungen der Pariser Universität und durch den an-
dauernden Streit mit den anderen beiden Päpsten gezwungen, das Con-
cil nach Coftnitz zu berufen, aber er that es mit der Absicht und in der
Hoffnung, auch dort Alles in eine bloße Spiegelfechterei zu verkehren und
die Versammlung so bald als möglich wieder aufzulösen. Das gelang
ihm nun zwar nicht. Zu gewaltige Schaaren von gelehrten und ge-
wandten Geistlichen und Laien waren dort aus allen christlichen Ländern
zusammengeströmt (an 80,000 Menschen), die nicht so leicht mit sich
umspringen und sich wieder nach Hause schicken ließen. Der Kaiser
Siegmund in aller Pracht seiner glänzenden äußern Erscheinung
hielt dort seinen Hof und die angesehensten deutschen Fürsten mit ihm.
Gesandte aus allen Ländern, aus Griechenland und aus Schottland,
aus Schweden und aus Cypern, aus Portugal und aus Rußland wa-
ren mit ihrem zahlreichen Gefolge erschienen. Weiter aber lagerte auch
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Extrahierte Personennamen: Johann_Huß Johann Alerander_V. Balthasar_Cossa Johann_Xxiii Johann Siegmund Siegmund
Xxl §.12. Scheinbare Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen Papstic. 419
fassenden Thätigkeit das lautere Wort Gottes in die Häuser getragen
und den Herrn und Heiland in die Herzen des Volkes gepflanzt
hätten. Wir wollen auch nicht verkennen, daß inanche fromme Ge-
müther unter ihnen waren, die solchen Segen wirklich um sich verbrei-
teten. Allein das waren nur Ausnahmen. Die Regel war, daß die
bettelnden Mönche ihr Ansehen beim Volk und ihre Gewalt über die
Gemüther dazu gebrauchten, um Reichthümer für ihre Orden zusam-
menzubringen , um den crassen Aberglauben der Reliquien und Heili-
genverehrung, die Verdienstlichkeit der guten Werke, den Gehorsam
gegen die Anordnungen der Kirche zu steigern und jeden Widerspruch
gläubiger Einfalt und innerlicher Frömmigkeit sofort niederzuschlagen.
Die Dominicaner wurden mit der Zeit die ärgsten Ketzerrichter, aus
ihrer Mitte ging die blutdürstigste Inquisition hervor.
§. 12. Scheinbare Wiederherstellung des Gleichgewichts
zwischen Papst und Kaiser.
Als Innocenz Hi. gestorben war, konnte der junge kaiserliche
Adler, den er groß gezogen und dem er selber zuerst zum Flug ver-
holfen, desto kühner und unbehinderter seine Schwingen entfalten.
Denn der neue Papst Honorius Iii. (1216 — 27) war ein milder
nachgiebiger Mann, der sich durch die süßen Worte und Versprechun-
gen des jungen Kaisers Hinhalten und zur Ruhe sprechen ließ. Aber
eben hier beginnt schon unsere Klage, daß der durch Friedrich Ii.
erneute Glanz des deutschen Kaiserthums keineswegs so reiner und
Heller Art ist, wie wir es von einem deutschen Kaiser erwarten
dürften. Deutsche Treue, deutsche Tiefe und Einfalt des Gemüthes
finden wir bei diesem Friedrich nicht mehr. Von einer italieni-
schen Mutter geboren, hatte er neben den ausgezeichnetsten Anlagen und
Herrschertalenten, bei einer hinreißenden persönlichen Liebenswürdigkeit
doch so viel sicilianische List und Schlauheit und Zweizüngigkeit, so
viel einseitige Verstandesschärfe bei mangelnder Innigkeit und Gerad-
heit des Herzens, daß wir Anstand nehmen, ihn noch den unsrigen
zu nennen. Auch verbrachte er den größten Theil seines Lebens in
Italien. Dort in seinem wunderschönen sicilianischen Erbreich weilte
er am liebsten. Seinem Sohne Heinrich, den er zum deutschen
König hatte krönen lassen, später seinem Sohne Konrad überließ er
die deutschen Angelegenheiten fast allein. Nur selten*), nur wo das
Gewicht seiner kaiserlichen Autorität in die Wagschale gelegt werden
mußte, kam er über die Alpen. Dagegen verwandte er alle seine Kräfte
*) Nach 1220 hat er Deutschland nicht mehr betreten, außer ln den Jabren
123b. 36 und 37.
27*
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Extrahierte Personennamen: Innocenz_Hi Innocenz Honorius_Iii Honorius Friedrich_Ii Friedrich Friedrich Friedrich Heinrich Heinrich Konrad Konrad
Xxii. §. 15. Innerer Verfall des Papstthums. 473
ßen den betrogenen Kaiser im Stich. Er suchte gegen sie eine halbe
Welt in Bewegung zu setzen, aber sie wußten sich mit den übrigen
Gegnern abzufinden und ließen den deutschen Kaiser ihre Rache dop-
pelt empfinden. Eine Zeitlang schien ganz Italien schon ihre Beute
zu sein. Aber Neapel wurde ihnen von den Spaniern wieder ent-
rissen und ist seitdem mehrere Jahrhunderte lang unter spanischem
Scepter geblieben. Auch aus Mailand wurden sie wieder verjagt,
über die Alpen zurückgetrieben, in ihrem eignen Lande angegriffen.
Aber Franz I., der junge ruhmbegierige Held, der nach seines Vet-
ter Ludwig's Xii. Tode 1518 den Thron bestieg und uns durch die
ganze Reformationszeit stets als ein böser Nachbar zur Seite bleiben wird,
erschien unmittelbar nach seiner Krönung mit einem auserlesenen Kriegs-
heer wieder in Italien und gewann durch die große Schlacht von M a r e g-
nano nicht bloß das Herzogthum M a ila n d , sondern den entscheiden-
den Einstuß im ganzen nördlichen Italien und die Obmacht über die Päpste.
§. 15. Innerer Verfall des Papstthums.
Die Papstgewalt war emporgekommen in einer unklaren Zeit,
da das geschichtlich begründete Maß der Rechte eines römischen Bi-
schofs schwer zu erkennen war. Ihre Stütze und Unterlage war die
allgemeine Sehnsucht nach einer sichtbaren Einheit, einem menschli-
chen Oberhaupt der Kirche. Denn die roheren, erst langsam aus
heidnischen Anschauungen sich heraufarbeitenden Völker konnten sich
bei der unsichtbaren Gemeinschaft der Gläubigen und der Verehrung
eines unsichtbaren Oberhauptes nicht beruhigen. Sie bedurften nach
ihrer Meinung einer Priesterschaft, sichtbarer Veranstaltungen, irdi-
scher Mittelspersonen, um den Verkehr der Christen mit dem Him-
mel zu vermitteln, um die Gebete, Gelübde und Opfer jedes Einzel-
nen vor Gott zu bringen und dagegen die göttliche Antwort und Ab-
solution dem Flehenden zu verkündigen. Ein solcher Jrrthum konnte
sich um so leichter verbreiten und festsetzen, weil eine genügende Kennt-
niß des Wortes Gottes nur in sehr kleinen Kreisen zu finden war
und der Werth der äußeren Zeichen der Frömmigkeit und „guten
Werke" längst gegen die Bekehrung und Heiligung des inwendigen
Menschen weit überschätzt zu werden pflegte.
Schon frühe hatte die Anrufung der Maria und der Heiligen
das Gebet zu Gott und Christo in den Hintergrund gedrängt. Durch
Einführung des Rosenkranzes wurde das Gebet noch armseliger; da-
gegen geschah Alles, um die Maria in den Augen des Volkes zu
heben. Neue Feste wurden um ihretwillen eingeführt, thörichte Le-
genden zu ihrer Verherrlichung ersonnen, die Zahl der Heiligen in
immer stärkerm Maße vermehrt. Die Masse der Reliquien ging be-
sonders seit der Zeit der Kreuzzüge in's Unglaubliche; allem Betrug
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Extrahierte Personennamen: Franz_I. Franz_I. Maria Christo Maria Maria
Extrahierte Ortsnamen: Italien Neapel Mailand Ludwig's Italien Italien Gottes Maria
474 Xxii. §. 15. Innerer Verfall des Papstthums.
und Aberglauben war Thor und Thür geöffnet, und die „frommen
Erfindungen" nahmen kein Ende. Der Gottesdienst wurde all-
malig zum leeren Gepränge eines priesterlichen Opferdienstes. In
unerhörter Weise wurden die Messen vervielfältigt und in den Augen
des Volkes gehoben, damit die Priester desto größer» Gewinn davon
hätten. Noch reichern Ertrag brachte die neue Erfindung der Ab-
laßzettel, wonach man für beliebige Preise eine beliebige Anzahl Sün-
den bezahlen und eine größere oder kleinere Quantität der Höllen-
strafen abkaufen konnte. Die gelehrten Theologen jener Zeit, die
Scholastiker, wußten jede noch so widersinnige Behauptung der Kirche
durch Vernunftbeweise zu begründen und verstiegen sich in die unbe-
greiflichsten Behauptungen. Die Lehre vom Fegfeuer, vom Schatz der
guten Werke, über welchen die Kirche zu disponiren habe, vom Blute
Christi, welches in der Hostie oder dem verwandelten Leibe Christi
mit enthalten sei, so daß der Kelch beim Abendmahl nicht vertheilt
werden dürfe; die Lehre von der unbefleckten Empfängniß Mariä
und ihrer mütterlichen Gewalt über den Herrn Jesus im Himmel,
die Lehre von der Unfehlbarkeit der Kirche, von der Heiligkeit des
kirchlichen Amtes trotz aller sittlichen Gemeinheit der priesterlichen
Personen, die Lehre, daß die bedingungslose Unterwerfung unter die
Gebote und Entscheidungen der Kirche der alleinige Weg sei, um in
den Himmel zu kommen — wozu konnte dergleichen anders dienen,
als zur Verwirrung der Gemüther und zur Entsittlichung der unwis-
senden Menge? .Woher hätten die richtigeren Begriffe, woher bi-
blische Klarheit und Erkenntniß ihnen kommen sollen? Die Predigt
war so gut wie ausgestorben. Die meisten Pfarrer konnten nicht ein-
mal predigen; und wo sie es noch thaten, da tischten sie ihren Zu-
hörern die elendesten Fabeln auf, erzählten die widersinnigsten Legen-
den und Wundergeschichten; oder wo sich etwa noch ein Rest schola-
stischer Gelehrsamkeit bei ihnen vorfand, da verstiegen sie sich zum
Theil in die unfruchtbarsten Probleme und unverständlichsten Lehrsätze,
von denen weder sie selbst noch das Volk einen Eindruck auf das Herz
gewinnen konnten. Sah aber die Gemeinde auf das Leben seiner
Geistlichen, so erblickte sie mit geringen Ausnahmen einen großen
über die ganze Kirche ausgebreiteten Sündenpfuhl. Das unselige
Cölibatsgesetz hatte die Unzucht in allen ihren Formen zu einer ver-
meintlichen Nothwendigkeit gemacht. Die Kleriker suchten ihre Wol-
lustsünden nicht einmal mehr zu verbergen, sie waren die schlimmsten
Verführer ihrer weiblichen Gemeindeglieder. Auch die Klöster, so-
wohl Mönchs- als Nonnenklöster, waren anerkanntermaßen die Haupt-
TM Hauptwörter (50): [T27: [Kirche Luther Lehre Kloster Jahr Bischof Schrift Papst Reformation Wittenberg], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer]]
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Extrahierte Ortsnamen: Christi Christi Empfängniß_Mariä
Xxii. §. 15. Innerer Verfall des Papstthums. 475
sitze der schnödesten Unzucht, sowie sie zugleich die Hochschulen der
gemeinsten Gewinnsucht, des schlauen Betrugs, der unverschämten Ehr-
sucht und Herrschsucht waren. Immer von Neuem hatte man angefangen,
die Klofterwirthschaf tzu reformiren, andere Klosterregeln, andere Orden
hatte man in's Leben gerufen; aber ohne die Zucht und Klarheit des
göttlichen Wortes waren sie alle nach und nach in dasselbe sittliche
Verderben hineingerathen. Weder jene Bahnbrecher Gregor's Vh.,
die eifrigen Cluniacenser, noch Norbert's Prämonstratenser, noch
die Cistercienser des heiligen Bernhard, weder die Franciscaner noch
die Dominicaner, einen so ehrenwerthen Anlauf auch manche von
ihnen nahmen, konnten die sittliche Verwilderung von sich fern halten.
Ueber allem diesen Moder und Elend eines faulenden Kirchen-
wesens thronten die Päpste in ihrer Herrlichkeit zu Rom. Man
sollte meinen, der Jammer über die vom Scheitel bis zur Fußsohle so
arg verunstaltete Christenheit, die fast keine Spur der ursprünglichen
bräutlichen Schönheit mehr durchscheinen ließ, würde ihr Herz auf's
Tiefste verwundet, würde ihre Augen zu Thränenquellen gemacht haben.
Aber daran dachten sie nicht. Macht und Herrlichkeit, Hoheit und
Ehre, Reichthum und Genuß, das war es, wonach die Seele der
allermeisten Päpste dürstete; sie wollten die Herren der Welt sein,
nicht, wie sie sich zu nennen wagten: „Knechte der Knechte Christi."
Je eifriger ihnen seit dem Avignonschen Exil und dem päpstlichen
Schisma ihre unumschränkte Gewalt bestritten wurde, je heftiger sich
die Landesfürsten, die allgemeinen Concilien, die Pariser gelehrten
Redner, die franciscanischen Minoriten und so viele Stimmen aus
dem Volke erhüben wider die göttliche Ehre, die sie für sich bean-
spruchten, desto eifersüchtiger, desto unverschämter, desto gewaltsamer
wurden ihre Anmaßungen. Mit Feuer und Schwert erwehrten sie
sich der Ketzer, die ihre Autorität in Zweifel zogen, die Bannflüche
und Jnterdicte, die Inquisitionen und Scheiterhaufen folgten sich im-
mer rascher und schonungsloser. Wo es mit Gewalt nicht möglich
war, da wurden durch Geld, durch List, durch augenblickliche Zuge-
ständnisse die widrigen Stimmen zum Schweigen gebracht. Nicht die
würdigsten Geistlichen, sondern die ergebensten Anhänger setzten sie
auf die Bischofsstühle, in die kirchlichen Aemter; nicht Seelen zu ge-
winnen, sondern Geld zu gewinnen für sich und für die päpstliche
Casse, war ihre Aufgabe. Immer neue Abgaben wurden der Chri-
stenheit angesonnen; alle Länder durchschwärmten die Legaten des
Papstes, nicht um die kirchlichen Verhältnisse zu ordnen, sondern um
sie zu verwirren, um die Eingriffe der päpstlichen Allgewalt in alle
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478 Xxir. §. 15. Innerer Verfall deö Papstthums.
Vollendung sehr ausführlich in Gottes Wort dargestellt stnd, dagegen
die durch die Reformation erneuerte Christenheit eigentlich nirgend er-
wähnt wird. Selbst die Thatsache der Reformation, die doch unseren
Augen als eine der bedeutendsten, ja die bedeutendste Epoche in der
Geschichte der christlichen Kirche erscheint, wird von der Weissagung
nur mit so leisen Zügen angedeutet, als ob durch sie gar nicht ein
so gewaltiger Umschwung herbeigeführt sei. Zwar sie sind nicht
vergessen, die jungfräulichen Seelen, die als heiliger Same des
ausgearteten Weibes kämpfen wider den Drachen, und „den
Sieg behalten hatten an dem Thiere und seinem Bilde und seinem
Maalzeichen und seines Namens Zahl." Wir hören auch den Geister-
ruf erschallen: „Gehet aus von ihr, mein Volk, daß ihr nicht theil-
haftig werdet ihrer Sünden, auf daß ihr nicht empfanget etwas von
ihren Plagen." Allein auch das erscheint mehr als ein Fortgehendes,
sich durch längere Zeiträume öfter Wiederholendes, als eine einmalige
zu einem bestimmten Bruch und zur Entscheidung führende Thatsache.
Denn so schmerzlich für uns auch das Zugeständniß ist, so dürfen wir
es uns doch nicht verhehlen, daß auch durch die Reformation noch kei-
neswegs eine apostolische Erneuerung und Läuterung der Christenheit
herbeigeführt ist, daß die Masse der protestantischen Christenheit auch*
heute noch, und gerade recht heut zu Tage, von dem alten Hurenwesen,
von Abfall und Lästerung eben so erfüllt ist, wie die katholische
Welt, daß auch auf unserer Seite nur eine verhältnißmäßig kleine Zahl
es ist, welche die jungfräuliche Reinheit apostolischer Zeiten als ihren
Schmuck und Siegel aufweisen kann. So hoch wir also auch das Gottes-
werk der Reformation zu preisen haben, als das Mittel, durch
welches uns und vielen Tausenden das Licht wieder aufgegangen ist in
der Finsterniß, so müssen wir doch sagen, daß im Großen und Ganzen
das Verhältniß der Christenheit zum Herrn wesentlich dasselbe geblie-
den ist.
Es wiederholt sich, wie schon öfter bemerkt ist, die Geschichte des
israelitischen Gottesstaates in der Geschichte der christlichen Kirche. Auch
in Israel gab es einst eine glänzende theokratische Herrschermacht, der
alle Könige der Welt Geschenke brachten, auch dort gab es geistliche
Hurerei und Abfall, der die Stimme der Propheten nicht wehren konnte;
auch dort erfolgte ein Schisma und eine babylonische Gefangen-
schaft, wie Luther von einer babylonischen Gefangenschaft der Kirche
zu schreiben wußte. Aber eine neue Zeit brach an. Ein kleiner Rest
des Gottesvolkes kehrte wieder nach Jerusalem, erbaute daö zertrüm-
merte Gotteshaus, hielt sich wieder zum Gesetz und Zeugniß, gab den
von Gott gesandten Propheten die Ehre, kämpfte muthig gegen die
feindlichen halbheidnisch gewordenen Nachbarn, und behielt schließlich
den Sieg. Aber wie ging es weiter? Pharisäer und Sadducäer stan-
den bald wider einander, gleichgültig oder fanatisch stand die Menge
umher. Als der antichristische Ep ip Han es herein brach, fielen ihm
Hirten und Heerden mit Haufen zu, und nur ein sehr geringer Bruch-
theil war es, der widerstand bis auf's Blut und sein Leben reicht lieb
hatte, wo es galt, das ewige Leben zu gewinnen. Das ist, soweit
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